Corvo ist die kleinste und zugleich nördlichste Insel der Azoren und zählt aufgrund seiner Lage zugleich zu den isoliertesten Plätzen Europas. Hier kennt jeder jeden und verloren gehen kann eigentlich nichts. Dementsprechend ruhig geht es auf dem kleinen Eiland zu, dessen Name vom Rabe (port.: Corvo) abgeleitet wurde.
Am Fuß des steil aufragenden dominanten Vulkankraters Caldeirao der die Insel vor etwa zwei Millionen Jahren erschuf liegt die Hauptstadt Vila Nova do Corvo. Sie gleicht einem unterentwickelten Provinzdorf und ist mit gut 400 Einwohnern die kleinste Gemeinde mit Stadtrecht von ganz Portugal und wenn man so will die kleinste Inselhauptstadt Europas.
Entdeckt wurde die Insel zusammen mit dem Nachbareiland Flores um 1450. Viele Besiedlungsversuche scheiterten und so begann die eigentliche Besiedelung von Corvo erst im 16. Jahrhundert. Viel war hier nicht zu verdienen und auch einen sicheren Hafen gab es nicht. Die isolierte Lage war also gerade mal für einige Bauern und Hirten attraktiv.
Sprachlich haben sich bis heute viele alte Worte erhalten. Dies hat die Inselsprache bis heute lebendig gehalten.
Als im 18. Jahrhundert die Piraten über die Azoren hinweg zogen machte sich Corvo seinen Ruf als Zufluchtsort für zahlreiche Freibeuter. Man gab Wasser und Lebensmittel und reparierte auch Schiffe. Im Gegenzug erhielt die Insel den Schutz der Korsaren und auch den ein oder anderen erbeuteten Luxusartikel.
Außer Vila Nova gibt es nur noch den Caldeirao, einen Vulkankrater mit See über dem gerne ein paar Wolken hängen. Der 718m hoch aufragende mächtige Vulkankrater mißt an seinem Rand 6,5km im Umfang und fällt bis zu 300m steil nach innen ab. Nur an der Südseite gibt es eine kleine Fläche. Der Rest steigt steil an und fällt ins Meer genauso steil ab.
Auf der kleinen Landfläche weidet das ganze Jahr über das Vieh. Man baut Gemüse, Mais und Melonen an. Auf der Insel leben rund 1.000 Rinder und auch noch einige halbwilde Pferde.
Den Weg hinauf zum Vulkan kann man nicht verfehlen, denn es gibt nur eine Straße. Sie wurde erst 1996 komplett asphaltiert und führt geradewegs vom Hafen aus sieben Kilometer hinauf auf den Berg. Unterwegs trifft man immer wieder ein paar Bauern, die einem freundlich zuwinken. Jeder auf der Insel freut sich über neue Gesichter. Denn Abwechslung gibt es hier nicht viel und neue Menschen bringen meist auch neue Nachrichten.
Auf dem Weg hinauf zum Kraterrand zwitschern und trillern entlang des Weges einige Vögel deren Stimmen jetzt in der Ruhe der Natur erst richtig zur Geltung kommen. 560m über dem Meer hat man dann vom Miradouro do Caldeirao einen Ausblick, der ringsum bis zum Horizont reicht und bis zur Nachbarinsel Flores.
Corvo ist von einer mehr oder minder hohen Steilküste umgeben, die eigentlich keine Buchten entstehen liess. Die Küstenlinie ist äußerst felsig und von kleinen Inselchen und Untiefen geprägt.
1993 lief ein portugiesischer Fischkutter 500m vor der Küste auf eine Felsspitze auf und sank. Nicht alle Untiefen und Felsen sind bislang kartografiert.
Vom versteckten Aussichtspunkt Miradouro do Morro do Pao de Acucar aus kann man einen herrlichen Ausblick auf die teils über 400m steil abfallende Westküste geniessen.
Auf Corvo ist alles anders: kein Stau, keine Ampeln, keine Reklameschilder an den Geschäften, keine Hotels, kein Fastfood, kein Shopping-Center… nicht einmal Gericht und Gefängnis gibt es. Und doch läßt Corvo keinen Besucher unberührt, denn auf Corvo pflegt man noch die Traditionen.
Auf Corvo gibt es bis auch heute noch keine Verkehrsprobleme: es gibt keinen Bus und keine Bahn. Immerhin haben die Autos und Motorräder in den letzten zehn Jahren allmählich die alten Eselskutschen ersetzt. Aufs Feld fährt man heute oft mit dem Quad.
Wer Flores besucht, sollte unbedingt einen Tagesausflug nach Corvo machen. Auf das 17 km² kleine Eiland geht es per Miniflugzeug für ein gutes dutzend Personen oder auf schwankenden Booten.
Jahrhundertelang war die Insel abhängig vom guten Willen der Gezeiten, denn während der heftigen Winterstürme mit mehr als 10m hohen Wellen war Corvo oft über Wochen nicht von aussen erreichbar und bei rauher See muss man noch heute auf den Seeweg verzichten. Erst der Bau des Flughafens hat diese Situation verändert, doch auch die winzigen Flieger sind vom Wind abhängig. Die Landebahn ist mit 850m so kurz, dass nur Kleinflugzeuge landen können. Schiff oder Eilandhopper – beides ist ein Abenteuer.
Ein Zimmer zu finden ist heute noch nicht ganz einfach. Man muss viel telefonieren und sich auf mündliche Zusagen verlassen.
Kaum zu glauben: noch bis vor einem viertel Jahrhundert gab es hier weder Arzt noch Priester. Früher rief man von Flores Hilfe mittels Rauchzeichenherbei. Die Anzahl der Feuer gab Aufschluss darüber, ob man einen Arzt, Priester oder andere Hilfe benötigte. Später ersetzte der Funk das steinzeitliche Kommunikationsmittel.
Die Insel und ihre Bewohner sind nicht einfach zu begreifen, denn hier draussen im Atlantik ist es einsam und man wird zum Spielball der Natur. Das hat über die Jahrhunderte hinweg ein ganz enges Gefühl der Zusammengehörigkeit geprägt, das auch auf jeden Besucher schnell abfärbt.
Vieh- und Landwirtschaft bilden für einen Großteil der Corviten noch die Haupteinnahmequelle. Man lebt von dem was man hat und tauscht gegenseitig auch mal Waren und Nahrungsmittel.
Wer hier Einkaufen will muss lange nach Läden suchen, denn für die wenigen Bewohner gibt es keine Shopping-Meile. Lebensmittel und alles zum Leben und fürs Haus notwendige kauft man in unterentwickelten Tante-Emma-Läden, die nicht weiter gekennzeichnet sind und manchmal einem besser ausgestatteten privaten Vorratsraum gleichen. Man muss sich also schon ein wenig durchfragen, um an die richtige Türe zu gelangen.
Trotzdem hat auch die Moderne längst Einzug gehalten. Die neue Schule hat einen modernen, schnellen Internetzugang der schon den Jugendlichen Kontakte in alle Welt ermöglicht. Mit 14 Jahren müssen die Schüler dann auf höhere Schulen auf Terceira oder Sao Miguel. Während dieser Zeit leben sie dann bei Gastfamilien.
Spricht man mit den Corviten, so erfährt man sicher auch die Legende vom 1000. Inselbewohner: das soll allerdings schon vor über 100 Jahren gewesen sein und in der Nacht als der 1000. Bewohner das Licht der Welt erblickte starb auch gleich schon wieder einer, so die Legende.
Tatsächlich lebten zu Spitzenzeiten im Jahr 1894 1.065 Menschen auf Corvo.